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Die Diskrepanz zwischen zugeschriebener und tatsächlicher Validität von Personalauswahlverfahren

Seit mehreren Jahren gebe ich Seminare und halte Vorträge zur Verwendung des halbstrukturierten Interviews. Ich unterstütze mit meiner Erfahrung aus über 1000 Einstellungsinterviews Unternehmen dabei in ihrer Auswahl neuer Mitarbeitenden noch professioneller zu werden. Es ist mein Anspruch, die bestmögliche Auswahlentscheidung zu treffen. Mein Motiv liegt darin, dass Unternehmen langfristig nur mit passenden Mitarbeitenden erfolgreich sein können. Darüber hinaus ist die einmalige Durchführung eines valides Auswahlverfahren kostengünstiger als ein mehrfach schlecht durchgeführtes Auswahlverfahren, weil Stellen regelmäßig neu besetzt werden müssen, ganz zu schweigen von Einarbeitungskosten, Imageschade, Gerichtskosten etc.

Aktueller Stand der Verwendung wissenschaftlich fundierter Auswahlverfahren

Valide Auswahlverfahren sind seit den 70er Jahren in der psychologischen wissenschaftlichen Literatur bekannt und trotzdem werden sie bisher noch selten angewendet. In der Ausgabe 1 aus dem Jahr 2018 der Zeitschrift Wirtschaftspsychologie aktuell erschien der Artikel „Personalauswahl: Praktiker überschätzen Validität von Auswahlverfahren.“ [1] Dort wird folgendes zum aktuellen Stand der Verwendung von Auswahlmethoden beschrieben:

  • „Bei der Sichtung von Bewerbungsunterlagen interessieren sich fast 90 Prozent der Unternehmen für Tippfehler, obwohl diese keine Aussagen über stabile Persönlichkeitsmerkmale ermöglichen. Mehr als 80 Prozent interpretieren Lücken im Lebenslauf trotz ihrer nachweislich kaum vorhandenen Validität.
  • Selbst bei der Besetzung von Führungspositionen wird im Vorfeld nur in etwa einem Drittel der Fälle eine differenzierte Anforderungsanalyse durchgeführt, obwohl diese notwendig wäre, um ein maßgeschneidertes Auswahlverfahren entwickeln zu können.
  • Seit Jahrzehnten ist bekannt, dass hochstrukturierte Interviews deutlich validiere Prognosen des beruflichen Erfolgs ermöglichen als Interviews mit geringer oder fehlender Struktur. Dennoch achten nur elf Prozent der Unternehmen darauf, dass allen Bewerbern für eine Position auch dieselben Fragen gestellt werden. Nur vier Prozent vergeben für jede Antwort Punktwerte zur Messung stellenrelevanter Kompetenzen.
  • Obwohl die Intelligenz nachweislich zu den besten Prädikatoren beruflicher Leistung, insbesondere bei Managementpositionen, gehört, findet sie bei entsprechenden Auswahlverfahren fast keine Verwendung.
  • Die beliebtesten Persönlichkeitsfragebogen in der deutschen Wirtschaft sind solche, die man aus Perspektive der Forschung nicht empfehlen würde.
  • Bei der Auswahl konkreter Methoden ist für die Entscheidungsträger die Verbreitung einer Methode ein wichtigeres Auswahlkriterium als deren Validität.“ (vgl. Kanning/Varelmann)

Überschätzung der Aussagekraft von Bauchgefühl und Probezeit in Personalauswahlverfahren

Ich habe mich immer gefragt warum das so ist. Meine Vermutung war, dass dem eigenen Bauchgefühl mehr vertraut wird als wissenschaftlichen Vorgehensweisen sowie insgesamt eine mangelnde Wertschätzung für die Personalauswahl. Schließlich kann man ja Kandidat*innen in der Probezeit wieder rausschmeißen. Der dadurch entstehende Imageschaden lässt sich nur schwer in betriebswirtschaftliche Zahlen fassen und was nicht in Euro ausgerechnet werden kann, existiert einfach nicht. Eine weitere mögliche Antwort habe ich in dem oben zitierten Artikel gefunden, denn hier wurde untersucht, welche Validität den verschiedenen Auswahlmethoden zugeschrieben wird und wie valide sie wirklich sind. Für mich waren folgende Aussagen besonders erhellend:

  • Die Validität von unstrukturierten Interviews wird mit 41,09 % fast genauso hoch wie die Validität von hochstrukturierten Interviews mit 47,43% eingeschätzt. (vgl. Kanning/Varelmann) Also warum sich die Mühe machen und ein hochstrukturiertes Interview vorzubereiten, wenn der Mehrwert vermeintlich so gering ist?
  • Die Aussagekräftigkeit der Probezeit wird sogar mit 70,01 % von den Befragten bewertet. (vgl. Kanning/Varelmann) Klar, vor diesem Hintergrund reicht es aus, einen halbstündigen kurzen Plausch zu halten und in der Probezeit wird sich dann schon herausstellen, ob das passt. Mein bisheriges Gegenargument zu dieser Vorgehensweise, dass ich es unverantwortlich finde, jemanden unter dieser Prämisse einzustellen, da es auch etwas mit der Person macht, wenn sie eine Kündigung während der Probezeit erhält, wurde allzu oft weggewischt. Schließlich würde das nicht so oft vorkommen, da man in dem Gespräch ein gut entwickeltes Bauchgefühl hätte und selbst die Trennung würde man immer sehr wertschätzend durchführen.

Tatsächlich ist es jedoch so, dass ein unstrukturiertes Interview eine Validität von 4% hat laut des Artikels von Kanning/Varelmann, während ein hochstrukturiertes Interview bei 32,5% liegt. 32,5% erscheinen einem vielleicht nicht hoch, jedoch liegt die Probezeit mit ihrer tatsächlichen Aussagekräftigkeit noch darunter, nämlich bei 19,36%. (vgl. Kanning/Varelmann)

Plädoyer zur Verwendung valider Personalauswahlmethoden

Ich als Recruitierin mit Herzblut, für die es selbstverständlich ist, sich der besten Auswahlmethoden zu bedienen, die es bis dato gibt, habe nun ein besseres Verständnis für die Antworten meiner Gesprächspartner erhalten. Da so mancher lieber seinem Bauchgefühl oder der Probezeit vertrauen will, wiederhole ich es gerne nochmal. Die besten Auswahlmethoden sind zurzeit:

  • Das strukturierte Interview mit einer Vorhersagekraft von 32,5% (vgl. Kanning/Varelmann)
  • Der Intelligenztest mit einer Vorhersagekraft von 26,01% (vgl. Kanning/Varelmann)

Diese Vorhersagemöglichkeiten erscheinen, einem niedrig, wenn man gerne 100% hätte. Doch nur weil diese Verfahren nicht die gewünschten 100% erbringen auf noch weniger valide Methoden zurück zu greifen, ist aus meiner Sicht keine Lösung. Wenn du nicht bereit bist in solche Verfahren zu investieren, was ist dein Auswahlverfahren dann noch wert? Du stellst aufgrund des psychologischen Effektes einen dir ähnliche Menschen ein, das hat jedoch keine Vorhersagekraft auf beruflichen Erfolg.

Auf meinem Blog habe ich bereits Artikel zu der Erstellung eines Anforderungsprofils sowie der Fragetechnik in Interviews veröffentlicht.

[1] Kanning, U.W./Varelmann, L.: Personalauswahl: Praktiker überschätzen Validität von Auswahlverfahren. In: Sektion Wirtschaftspsychologie im BDP (Hrg.): Wirtschaftspsychologie aktuell. 20018. Ausgabe 1

Am 25.07.2022 überarbeitet.

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