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Selbstorganisation und Eigenverantwortung am Beispiel der Recruitingabteilung – Fluch und Segen zugleich

Im Rahmen der agilen und digitalen Transformation unserer Arbeitswelt sprechen wir viel über Selbstorganisation, Eigenverantwortung und iteratives Vorgehen. Ich persönlich liebe es, eigenverantwortlich und selbstorganisiert zu arbeiten. Jedoch habe ich auch den Eindruck, dass dies nicht jedem liegt, manche es vielleicht verlernt haben und manche es auch aufgrund ihrer Erfahrungen in der „alten“ Arbeitswelt einfach nicht (mehr) wollen.

Herausforderungen der Selbstorganisation

Selbstorganisation, Eigenverantwortung und iteratives Vorgehen in der Personalabteilung steht meines Erachtens unter einer ganz besonderen Herausforderung. Ich gehe davon aus, dass einige der Punkte auch auf andere Abteilungen zutreffen und beschreibe daher die Herausforderung anhand einer Recruitingabteilung so wie ich schon mehrere in meinem Berufsleben erlebt habe. Von meinen Kolleginnen und Kollegen aus anderen Unternehmen weiß ich, dass die Rahmenbedingungen dort ähnlich sind.

Marcus Reif spricht mir in seiner Beschreibung des Ist-Zustandes aus der Seele:

„Das Recruiting-Dilemma ist ja, dass wir oftmals innengerichtet agieren. Fachbereiche investieren zu wenig in gute Führung und moderne Kultur, kaum Flexibilität von Arbeitszeit und Arbeitsort. Und das drückt Fluktuation nach oben. Die Auswirkung aus der Fluktuation wird intern direkt ans Recruiting durchgereicht. Umgehend ist nun dafür zu sorgen, dass ein adäquater, gleich kompetenter und rasch verfügbarer neuer Kollege gefunden wird.

 Das löst in Summe einen Prozess aus, bei dem es darum geht, viele Bewerbungen zu generieren. Recruiter stehen knietief im operativen Prozess und beschäftigen sich in vielen Stunden des Tages mit Screening eingegangener Bewerbungen. Selbst das Active Sourcing als wirkungsvolles Instrument bleibt stiefmütterlich im Werkzeugkasten. Keine Zeit, ist allenthalben zu hören. Und deshalb bleibt die Wahrnehmung, dass die Arbeit der Recruiter oft ineffizient, teuer und fehlerhaft ist. Unser Fokus liegt zu sehr auf Prozessen und nicht auf Kandidaten.“

Unter diesen Bedingungen selbstorganisiert und eigenverantwortlich zu arbeiten, ist extrem herausfordernd. Ständig müssen Anforderungen von außen bedient werden und der Druck ist groß. Wenn dann der Anspruch vorhanden ist, neben der operativen Abarbeitung der Aufträge, tatsächlich die eigene Arbeit qualitativ weiter zu entwickeln, wird es wirklich schwierig. Das kann man nur, wenn der Wille sehr groß ist, sich und das Unternehmen entgegen aller Hindernisse weiter zu entwickeln, gepaart mit starker Selbstoptimierung und auch mal nein sagen zu können.

Das Dilemma

Im Deutschlandfunk Kultur wurde das Dilemma zwischen Selbstorganisation und Eigenverantwortung einerseits und Handlungsspielräumen und -kompetenzen andererseits kürzlich wie folgt sehr treffend beschrieben: „In der heutigen Arbeitswelt sind wir gefordert, uns als ganze Persönlichkeit in die Arbeit einzubringen, uns mit unserer Arbeit zu identifizieren, sagt die Soziologin Stefanie Graefe von der Universität Jena. Zwar seien die Handlungs- und Entscheidungsspielräume für viele Menschen größer geworden, die Autonomie habe also zugenommen. Doch seien ihr durch gesetzte Termine und geforderte Leistungen wiederum enge Grenzen gesetzt.“

In meinem ganz direkten Umfeld bekomme ich die Konsequenzen regelmäßig mit. Es gibt die Menschen, die Schwierigkeiten haben mit dem schnellen Wandel mitzugehen bzw. befürchten, dass es nur die x-te von oben verordnete Reorganisation ist. Dann gibt es die Menschen, die ganz engagiert dabei sind, sich trotz der oben beschriebenen Zwänge und Grenzen einbringen wollen und versuchen, Dinge voran zu treiben. Beide laufen Gefahr in Erschöpfungszustände zu fallen. Aber auch dafür bekommen sie dann häufig die Verantwortung: ganz nach dem Motto, wenn man mit dieser Situation nicht zurechtkommt, dann muss man eben an seiner Resilienz arbeiten und/oder ggf. auch eine Therapie oder zumindest ein Coaching in Erwägung ziehen. Ist hier die individuelle Zuschreibung der Verantwortung noch gerechtfertigt? Denn die organisationalen Rahmenbedingungen werden immer noch von Menschen gemacht. Nur leider häufig ohne dabei die Menschen selbst im Blick zu haben.

Handlungsoptionen in diesem Dilemma

Für mich sind in diesem Zusammenhang mehrere Dinge relevant. Ich gehöre ja bekanntlich auch zu der genannten Personengruppe, die versucht etwas zu bewegen und organisationale Hindernisse zu überwinden. Mir ist es unglaublich wichtig selbstorganisiert und eigenverantwortlich zu arbeiten. Ich versuche dem Dilemma auf drei Ebenen zu begegnen, um allem irgendwie gerecht zu werden und habe dabei nicht nur mich selbst, sondern auch meine Teamkolleginnen und -kollegen sowie meine Organisation im Blick. Denn ich bin davon überzeugt, dass wenn ich mich ausschließlich auf mich selbst konzentriere, ich damit nicht weiter komme.

Persönliche Ebene

Kontinuierlich schaffe ich mir Freiräume im operativen Tagesgeschäft, um mich zu fokussieren und zu entscheiden, welche Themen ich weiter verfolgen will und sortiere dabei auch immer wieder Dinge aus oder stelle sie zurück. Hier liegt mein Augenmerk auf strategisch wichtigen Themen, um das Vorankommen mit meinen Zielen zu ermöglichen, aber auch ganz klar in Bezug auf meine Energie:  wo zieht es mich am meisten hin, was fühlt sich machbar an.

Des Weiteren übe ich mich in Achtsamkeit und Selbstwahrnehmung. Ziel ist es, rechtzeitig die Zeichen von Überlastung und Mental Overload zu erkennen und gegenzusteuern.

Und zuletzt achte ich stark auf mein Zeitbudget. Die Zeit, die ich habe, versuche ich möglichst effizient einzusetzen.

Team-Ebene

Meine Grundannahme ist, dass jeder das Beste tut, was er kann und gute Arbeit leisten will. In manchen Umgebungen ist es jedoch aufgrund der bisherigen Unternehmenshistorie und -kultur schwierig, dass in jedem das Beste zum Vorschein kommt, weil z. B. der Druck sehr hoch ist. Das bedeutet, nicht jeder nutzt die ihm angebotenen Freiräume zur Selbstorganisation und Eigenverantwortung aus ganz individuellen Gründen. Daher versuche ich jeden in meinem Team individuell wahrzunehmen. Das bedeutet konkret, Kolleginnen und Kollegen zu ermutigen, Dinge auszuprobieren oder auch meine konkrete Unterstützung anzubieten, wenn sie in etwas besser werden wollen. Gleichzeitig hole auch ich mir regelmäßig Unterstützung und Feedback ein, um mich unter den gegebenen Rahmenbedingungen weiter zu entwickeln.

Meine Botschaft lautet, wenn wir alle ein bisschen aufeinander achten und uns unterstützen, können wir die aktuellen Herausforderungen viel besser meistern.

Organisationale Ebene

Auch auf organisationaler Ebene versuche ich Wege aufzuzeigen, die Freiräume für mehr Selbstorganisation und Übernahme von Verantwortung bieten. Ich bringe meine Ideen und Gedanken ein, teile Blogartikel und Veranstaltungen mit meinen Kollegen, Vorgesetzen und der Bereichsleitung, wenn ich denke, dass es interessant für sie sein kann und uns als Organisation voranbringen könnte. Und wie könnte es anders sein, versuche ich auch, alle zu motivieren an Working Out Loud Circles teilzunehmen, um noch besser in Selbstorganisation und Eigenverantwortung, auch unter diesen erschwerten Bedingungen, zu werden.

Ich erlebe aber auch immer wieder, dass gemeckert wird. Hier versuche ich für gegenseitiges Verständnis zu werben. Es gibt Gründe, warum jemand sich so entwickelt hat. Diese Gründe gilt es zu verstehen und zu versuchen, damit zu arbeiten. Gerade, wenn Organisationen über Jahre streng hierarchisch organisiert waren und Mitarbeitende auf einmal selbstorganisiert und eigenverantwortlich arbeiten sollen, muss man sich nicht wundern, auf berechtige Widerstände zu stoßen.

Fazit

Ich finde, dass Selbstorganisation und Eigenverantwortung mehrdimensional betrachtet werden muss. Das jetzt zu hypen, auch wenn ich persönlich, diese Entwicklung sehr begrüße und es mir gar nicht schnell genug gehen kann, finde ich falsch. Es benötigt eine historische und kulturelle Einordnung im Unternehmenskontext und von dieser Basis ein Vorgehen in kleinen und kontinuierlichen Schritten, um die Organisation und mit ihr die Menschen entsprechend zu entwickeln.

Ich glaube jedoch, dass uns allen schon mal damit geholfen sein wird, an unserer eigenen Beziehung zu unseren Kollegen zu arbeiten, sich gegenseitig zu unterstützen, konstruktiv zu diskutieren und gegenseitig etwas auf uns acht zu geben. Dies gilt Abteilungsübergreifend. Das bedeutet, dass ich das auch mit meinen internen Kunden, den Fachabteilungen, tue. Das ist auch meine oberste Priorität bei aller Zeitnot, da ich „knietief im operativen Prozess“ stecke. An wertvollen Beziehungen zu arbeiten und dadurch abteilungsübergreifend näher zusammen zu rücken, können wir, meiner Meinung nach, selbstorganisiert und eigenverantwortlich tun. Es ist ein Feld in dem wir tatsächlich sehr großen Gestaltungsspielraum haben und wenig Grenzen und Beschränkungen.

Quellen:

Artikel von Marcus Reif

Artikel von Deutschlandfunk Kultur

 

1 Kommentar zu „Selbstorganisation und Eigenverantwortung am Beispiel der Recruitingabteilung – Fluch und Segen zugleich“

  1. Ein schöner Artikel von dir Katharina, wieder einmal meinen herzlichsten Dank für die Offenheit und bewusste Öffentlichkeit dieses Beitrages
    Und ich stelle fest, auch ich sollte ein paar Dinge an mir ändern und mehr auf Andere achten, als nur aus meiner Perspektive die Themen zu bemängeln.
    Danke für die Inspiration

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